Zuerst der einfache Teil: Dekarbonarisierung. Dann zum schwierigen: CO2 aus der Luft absaugen.
„Net Zero“ bis 2050, kein weiterer Zuwachs von CO2 in der Atmosphäre, ist das ambitionierte Klimaziel des Pariser Vertrags. Während sich das Augenmerk auf die Dekarbonisierung der Stromerzeugung richtet für Net Zero auch Verfahren zur Entfernung von CO2 aus der Atmosphäre nötig sein: „Carbon Capture and Storage“, CCS. Manche stehen dieser Entwicklung kritisch gegenüber.
Helmut Spudich
Drax in Yorkshire, im Mittelalter Sitz eines Augustiner-Klosters und einer großen Pfarre, später dank einer höheren Schule und zwei Bahnstationen ein örtlich wichtiges Zentrum, ist heute ein unbedeutendes Dorf mit weniger als 500 Einwohner. Schule und Bahnstationen sind längst geschlossen, nur zwei Attraktionen sind Drax verblieben: Die den Ort überragende Kirche St. Peter und Paul, und nur wenige Kilometer vom Ortskern entfernt die alles überragenden sechs Meiler eines Kohlekraftwerks.
Als es vor knapp 50 Jahren in Betrieb ging, war Drax das größte Kohlekraftwerk Englands. Inzwischen steht Drax für eine Energiewende der anderen Art: Bis 2030 soll das Kraftwerk „carbon negativ“ werden, soll der Luft mehr Kohlendioxid entziehen, als es selbst CO2 produziert.
Die Verwandlung ist ein Stück in zwei Akten: Der erste ist beinahe abgeschlossen und besteht in der Umstellung von Kohle auf Biomasse als Brennstoff. Im Idealfall sollte das Kraftwerk damit „CO2 Neutral“ werden, denn als nachwachsender Rohstoff — vor allem Holzpellets aus den Resten von Holzverarbeitung — wird durch die Pflanzen soviel CO2 der Atmosphäre entzogen wie bei der Verbrennung wieder freigesetzt wird. (Ob die Befeuerung mit Holzschnitzel tatsächlich CO2-neutral ist, wird heftig diskutiert. Der Einwand: Holz wächst nicht schnell genug nach, um so viel CO2 zu binden, als beim Verbrennen frei wird.)
Carbon Capture & Storage
Der zweite Akt, für den im Rahmen eines Pilotprojekts 2019 der Vorhang aufging: Das Absaugen des bei der Verbrennung entstehenden CO2 und dessen Lagerung in unterirdischen Gesteinsformationen — in der Fachsprache „carbon capture and storage“ (CSS) genannt. In der Pilotphase wird täglich eine Tonne CO2 den Emissionen entzogen, bis 2030 sollen jährlich 8 Millionen Tonnen Kohlendioxid gespeichert werden.
CCS ist ein Teil der Szenarien, die im Pariser Klimaabkommen entwickelt wurde. Um das Ziel einer maximalen globalen Erwärmung von 2 Grad Celsius zu erreichen, idealerweise sogar nur 1,5 Grad, wären nach Expertenschätzung noch wesentlich ambitioniertere Pläne nötig als die derzeitigen Absichtsklärungen von Regierungen. „Nur“ eine CO2-freie Stromerzeugung, inklusive der umstrittenen Nutzung von Atomenergie, würde zur Erreichung von Net Zero nicht ausreichen. Darum müssten Staaten auch CO2 wieder aus der Atmosphäre entfernen — Schätzungen des IPCC (International Panel on Climate Change) reichen von 100 bis 1000 Milliarden Tonnen bis Ende des Jahrhunderts. Laut Internationale Energy Agency (IEA) in Paris könnte CSS einen Anteil von rund 20 Prozent an der Reduktion der Treibhausgase übernehmen. 2020 waren es jedoch erst bescheidene 40 Millionen Tonnen CO2, die laut IEA so entfernt wurden, gegenüber 34 Milliarden Tonnen CO2-Emissionen im selben Jahr.
Das hat mehrere Gründe: Einerseits gibt es in etlichen Bereichen, vor allem bei der Erzeugung von Stahl und Zement mit extrem hohen Temperaturen, derzeit noch kaum Verfahren, die auf fossile Energie verzichten können. Flugverkehr, für rund 2,5 Prozent der Emissionen verantwortlich, wird zumindest auf Langstrecken Brennstoffe mit hoher Energiedichte benötigen, die weiterhin CO2 freisetzen. Und in etlichen Regionen der Welt wird Mobilität auf Brennstoffe, auch fossile, angewiesen sein, da die Infrastruktur für E-Fahrzeuge im besten Fall lückenhaft ist.
CO2-Lagerstätten in der Tiefe
Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass hier möglicherweise die Industrie zu Hilfe kommt, die für den Großteil des Fiaskos Verantwortung trägt: Die Ölproduzenten haben sowohl das Knowhow, um CO2 unter die Erde zu pumpen, als auch die unterirdischen Lagerstätten, in denen das Gas in großen Mengen gespeichert werden kann.
CO2 wird bereits derzeit — allerdings in wesentlich geringerem Umfang als es CCS erfordern würde — für die Extraktion von Öl und Erdgas aus Gesteinsschichten verwendet. Dabei verschlechtern die Ölkonzerne jedoch sogar noch ihre CO2-Bilanz, denn sie beziehen Kohlendioxid aus energieaufwendiger industrieller Produktion, statt aus der Luft wie dies die Drax Power Station macht.
Eine Reihe von Projekten großer Ölkonzerne, vor allem in der Nordsee, sind hier im Entstehen. „Northern Lights“ ist eine Kooperation des norwegischen Ölkonzerns Equinor mit der holländischen Shell und der französischen Total, um erschöpfte Ölfelder der Nordsee für die CO2-Speicherung zu erschließen. Ein anderes Vorhaben wird auf dem Areal eines früheren Stahlwerks im englischen Teesside errichtet: Hier werden die CO2-Emissionen örtlicher Fabriken in einem Reservoir tief unter der Nordsee begraben. Das von BP und der britischen Regierung betrieben Projekt ist wahrscheinlich das derzeit ambitionierteste CCS-Vorhaben. Andere große Vorhaben könnten in wenigen Jahren im Golf von Mexiko folgen, erklärte der Ölkonzern Exxon im Vorjahr CCS zu einem wichtigen künftigen Geschäftsfeld. Bis 2040 soll der weltweite Markt für Carbon Capture 2000 Milliarden Dollar groß sein.
CO2 versteinern
Während auf der einen Seite CCS Projekte, Technologien und staatliche Unterstützungen langsam Fahrt aufnehmen, gibt es auf der Seite von Umweltorganisationen auch Bedenken und Widerstand. Im Zentrum stehen Sicherheitsfragen: Wie können solche gigantischen Mengen an CO2 gespeichert werden, ohne dass es zu Lecks oder bei einem Erdbeben zu einem plötzlichen Entweichen des Kohlendioxids kommt? Auf diese berechtigte Frage werden Antworten nötig sein.
In Island wird auf diese Frage eine mögliche Antwort gegeben. Eine Anlage namens Orka (isländisch für Energie) saugt CO2 aus der Luft, mischt das Gas mit Wasser, und injiziert es in 1000 Meter Tiefe nahe einer Basaltformation. Dort verbindet sich das Kohlendioxid mit dem Basalt zu unlöslichen Kalzium- und Magnesiumkarbonaten – dauerhafter lässt sich Kohlendioxid nicht verpacken. Das Joint Venture einer Schweizer und einer Isländischen Firma läuft erfolgreich seit mehreren Jahren.
Eine andere Variante von Carbon Capture besteht darin, das Gas zu wandeln statt zu speichern, Carbon Capture and Utilization (CCU) genannt. Wissenschafter der Leobener Montanuniversität sehen in CCU für Österreich einen gangbareren Weg, um zur Reduktion von Emissionen beizutragen. Durch chemische Verfahren kann das Gas nutzbar und so zur Wertschöpfung beitragen, formulierte eine Forschergruppe am Institut für Verfahrenstechnik des industriellen Umweltschutzes bereits 2012. So könnte aus Kohlendioxid Treibstoffe erzeugt werden — das bei der Verbrennung neuerlich entstehende CO2 wird im Kreislauf wieder verwertet. Zur Reduktion von CO2 kann CCU jedoch nur indirekt beitragen — etwa indem damit fossile Brennstoffe ersetzt werden.
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