Fokus AI: 2023 hat die Ära der Künstlichen Intelligenz begonnen

Von ChatGPT bis zur EU-Regulierung von KI: 2023 war das Jahr, in dem die nächste Phase der Digitalisierung eingeläutet wurde, die unsere Gesellschaft verändern wird.

Helmut Spudich

Etwa alle 12 bis 15 Jahre löst eine herausragende Erfindung einen kräftigen Digitalisierungsschub aus. 1953 war die IBM 701 Data Processing Machine die erste Serie von Mainframes, die den Grundstein der Computerisierung legten. Vergleichsweise banal, aber von keinem Zukunftsforscher vorausgesehen war 1967 der erste elektronische Taschenrechner von Texas Instruments.

Mit dem IBM-PC 1981 begann der Einzug des PC in den beruflichen und privaten Alltag. Zeitgleich entstehen die Fundamente des Internets, von der Entwicklung des Internet-Protokolls (IP) bis zum Domain Name System (DNS). Mit Netscape und dem Internet Explorer wird das Netz ab 1994 massentauglich, während der Mobilfunk zu seinem ersten Höhenflug abhebt. 2007 bündelt Apple mit dem iPhone diese parallelen Entwicklungen in einem Gerät: Computer, Internet und Handy verschmelzen zum „Smartphone“. Und 15 Jahre nach dem iPhone bricht mit ChatGPT die Ära der Künstlichen Intelligenz an.

Mit KI ins Gespräch kommen

2023 war zweifelsohne das Jahr der Künstlichen Intelligenz, nachdem der KI-Vorreiter OpenAI am 30. November 2022 die Version 3.5 von ChatGPT für die Allgemeinheit zum Ausprobieren, Spielen, Staunen und Fürchten freigab. Das besondere an GPT war die Fähigkeit des KI-Modells, mit Benutzer:innen in einen Dialog zu treten, der sich von einem Gespräch mit einem anderen Menschen nicht unterscheidet. Natürlich wurden in zahllosen Beispielen die Einschränkungen von ChatGPT vorgeführt, von faktischen Irrtümern bis zu „Halluzinationen“, dem freien Erfinden einer Antwort. Jedoch wurde rasch klar, dass die Brauchbarkeit der so genannten generativen KI –KI, die Sprache, Bilder und Musik erzeugen kann – ihre Schwächen weit übertrifft.

Obwohl der Veröffentlichung von ChatGPT viele Entwicklungsjahre vorausgingen, war nicht nur OpenAI selbst, sondern die ganze Tech-Branche vom folgenden Hype überrascht. Open AI bezeichnete das System als eine „Low Key Research Preview“ und der Plan war, anhand des User-Feedbacks die bereits in Entwicklung befindliche Version 4 zu verbessern. Innerhalb von zwei Monaten verzeichnete ChatGPT 3.5 jedoch bereits 100 Millionen User, ein Meilenstein, den Facebook erst nach viereinhalb Jahren erreichte. So populäre wurde ChatGPT, dass es der renommierte „Economist“ zum Wort des Jahres kürte.

2023 wurde zu einem einzigen Wettrennen zwischen diversen neuen KI-Anbietern. OpenAI veröffentlichte im März die erste kommerzielle Version, GPT 4. Microsoft, der Hauptinvestor von OpenAI, integrierte KI auf Basis von GPT 4 in seine Suchmaschine Bing, gefolgt von KI-Assistenten in anderer Software. Google konterte mit „Bard“ und einer sehr eingeschränkten Verwendung von KI in seinen Angeboten; aus Vorsicht, wie das Unternehmen erklärte. Die Zahl neuer Entwicklungen ist inzwischen kaum noch überschaubar. Die Facebook-Mutter Meta versuchte, den Fokus vom Metaverse auf KI zu verschieben und gab seine hauseigene KI als Open Source Modell frei. Mit Stable Diffusion, Midjourney und DALL-E wurden bildgenerierende KI-Systeme populär.

GPT 4 lernte im Laufe des Jahres neue Tricks: Schnittstellen für fortgeschrittene User und Entwickler, um spezielle eigene Anwendungen auf Basis von ChatGPT 4 zu entwickeln. Dank der intensiven Berichterstattung rund um generative KI wurden auch die enormen Fortschritte sichtbar, die KI und Machine Learning in anderen Bereichen machten, etwa in der medizinischen Diagnostik oder bei der Entwicklung neuer Medikamente.

Die Aufholjagd

Das KI-Jahr 2023 kommt jetzt mit „Gemini“ von Google zu einem spannenden Ende und ein ebenso spannender Auftakt erwartet uns für 2024. Google nennt seinen nächsten Schritt eine „multimodale“ KI; soll heißen: Die Künstliche Intelligenz wurde nicht nur mit Text, sondern auch mit Bildern, Video und Ton trainiert und kann mit diesen Formaten sowohl bei der Eingabe als auch der Ausgabe arbeiten. Neu ist das aber nicht mehr, da auch ChatGPT diese Möglichkeiten inzwischen beherrscht. Dafür soll Gemini in diversen Benchmark-Tests den Konkurrenten bei der Genauigkeit übertreffen. Überprüfbar ist dies bis auf weiteres nicht, da Gemini erst schrittweise in den nächsten Monaten in Google-Produkten eingesetzt werden soll.

Google zieht damit möglicherweise mit OpenAI und Microsoft gleich – bahnbrechend wirkt die Ankündigung jedoch nicht. Es kann gut sein, dass wir damit auch einen Plafond des derzeitigen Hypes erleben: Künstliche Intelligenz hat 2023 gezeigt, dass sie „the next big thing“ der Digitalisierung ist. Jetzt beginnt die schrittweise Nutzung dieses Potenzials, die aber nicht mehr so spektakulär wie der erste Auftritt ist.

Dafür beginnt mit Google Gemini noch eine andere Phase der Entwicklung: Die Regulierung von KI durch die Gesellschaft, um möglichen Gefahren vorzubeugen. Gemini soll in 170 Ländern auf den Markt kommen, nicht jedoch in der EU und dem Vereinigten Königreich. Der Grund dafür ist offensichtlich: Zeitgleich mit der Vorstellung von Gemini verkündete die EU am 9. Dezember 2023 eine Einigung auf den AI Act, eine gesetzliche Regelung für künftige Entwicklungen im Bereich KI. Zwar schwächelt Europas Wirtschaft bei der Entwicklung eigener KI-Angebote. Aber als Regulator wird der EU AI Act nachhaltigen Einfluss auch auf die Angebote haben, die OpenAI, Microsoft, Google und viele andere auf den Markt bringen werden. Es bleibt also auch 2024 spannend.

Veröffentlicht am: 21. Dezember 2023

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