Wenn Millisekunden über Leben und Tod entscheiden

Nicht nur bei Menschen kommt es auf die Reaktionszeit an: In der Telemedizin oder der Sicherheit selbstfahrender Autos können wenige Millisekunden über Leben und Tod entscheiden. Höhere Frequenzen und hauchdünne Luftröhrchen im Nano-Bereich für die Übertragung von Signalen sollen Latenzzeiten reduzieren.

Sie kennen das von Ihrem Smartphone: Ein Link wird angeklickt, es dauert einige Sekunden, ehe die Seite endlich angezeigt wird. Oder beim Streaming: Nachdem wir endlich den Favoriten für Binge-Watching gefunden haben und erwartungsvoll anklicken, schauen wir dem kleinen Kreis beim Kreisen zu… ehe der Spaß beginnen kann. Im Straßenverkehr leuchten die Bremslichter des vorausfahrenden Autos auf, es dauert eine Sekunde, womöglich zwei, ehe der nachfolgende Fahrer reagiert.

Die Zeit zwischen einem Signal und der Reaktion darauf: Was bei Menschen die Reaktionszeit, ist bei Geräten und Maschinen die Latenzzeit. Menschliche Reaktionszeit kann trainiert werden, aber selbst bei größter Aufmerksamkeit bleibt ein Rest, den wir einplanen müssen. Latenzzeiten zu reduzieren braucht hingegen technologische Innovation und smarte Forschung nach neuen Verfahren, Materialien, Prozessen.

Viele Faktoren entlang eines Signalweges sind für Latenz verantwortlich. Um beim Smartphone zu bleiben: Die Zeit zwischen Handy und Sendemast, zwischen Handymast und entfernten Netzwerkrechnern, die Weiterleitung zur Serverfarm, von der dann die Information bereitgestellt wird. Auch wenn der Speedtest am Smartphone bei gutem LTE-Empfang eine Latenzzeit von nur 15 oder 20 Millisekunden anzeigt, diese Zeiten sind nur die halbe Miete. Ist der Server mit vielen Anfragen ausgelastet, setzt sich eine Seite aus Daten verschiedener Quellen zusammen, addieren sich die Millisekunden zu unserer Wartezeit –– und im Internetzeitalter ist Geduld zur Mangelware geworden.

Darum ist bei Mobilfunk 5G — die im Aufbau befindliche nächste Mobilfunkgeneration nach LTE — das Zauberwort für verkürzte Latenzzeiten. Dank neuer Antennentechnologien, größerer Bandbreite (das Spektrum, das für die Übermittlung eines Datenstroms zur Verfügung steht), sowie „Edge Computing“ (Netzwerkrechner möglichst nahe beim Endnutzer statt zentraler Vermittlung) soll die „Signallaufzeit“ von 15 bis 25 Millisekunden auf wenige Millisekunden reduziert werden.

Ein wesentlicher Faktor bei der Reduktion der Latenz bei 5G sei künftig die Verwendung wesentlich höherer Frequenzen, erklärt Erich Schlaffer, bei AT&S Projektleiter und Programmmanager für den Bereich Hochfrequenz und High Speed ist. „Die Geschwindigkeit des Signals in Luft ist immer gleich, mit 300.000 km pro Sekunde (Lichtgeschwindigkeit). Aber es macht einen Unterschied, ob Signale im Megahertz (eine Million Zyklen)- oder Gigahertz-Bereich übertragen werden. Im höheren Gigahertz-Bereich (eine Milliarde Zyklen / Sekunde) können mehr Signale in einer Sekunde übertragen und damit die Latenz verkürzt werden“, sagt Schlaffer. Diese Frequenzen im Bereich von 30-Gigahertz (je höher die Frequenzen, desto kürzer die Distanzen) überbrücken nur relativ kurze Distanzen, benötigen daher eine Unzahl an Mikrozellen ähnliche einem WLan-Router, die beispielsweise auf Lichtmasten,  Ampelanlagen oder Kanaldeckel eingebaut werden können.

Was für den üblichen Handygebrauch jedoch nur wenig Unterschied macht, ist für manche Anwendungen entscheidend. Bei Online-Gaming und E-Sports, wie die während des Corona-Lockdowns veranstalteten virtuellen Formel-1-Rennen, können 10 Millisekunden den Unterschied zwischen Sieg und Niederlage bedeuten. Für anderen Anwendungen sind Latenzzeiten nahe Null nicht Spiel, sondern können über Leben und Tod entscheiden. „Bei einer Operation, die mittels Augmented Reality durchgeführt wird, ist dies kritisch“, sagt Schlaffer. Die Fähigkeit des entfernt arbeitenden Chirurgen, mit Hilfe von virtueller und augmentierter Realität (VR und AR) mit derselben Präzision operieren zu können als ob sie oder er beim Patienten stünde, entscheidet über den positiven Verlauf.

Auch bei den tausenden Kommunikationssatelliten, die in niedriger Erdumlaufbahn künftig für Internet sorgen sollen, ist die Verkürzung der Latenzzeit eine große Herausforderung — damit gelingt es, den Nachteil der laufzeiterhöhenden Distanz zwischen Satelliten und Empfängern am Boden zu verringern. Nach dreijähriger Entwicklungszeit werden nächstes Jahr erstmals dafür speziell entwickelte Leiterplatten von AT&S im All ihren Dienst verrichten.

Einen großen Anwendungsbereich sieht Schlaffer im Automotive-Bereich bei der Entwicklung von Assistenzsystemen bis hin zu selbstfahrenden Autos. Dabei geht es um die Verkürzung der Latenzzeiten von Radar- und Lidar-Systemen, den „Augen“ und Sensoren autonomer Fahrzeuge. Durch kürzere Latenzzeit wird die Qualität der Information wesentlich höher, da wesentlich mehr Information zurückkommt – die „Auflösung“ des Radars, in der Sprache der Experten. „Derzeit liefert Radar nur Outdoor-Information. Wir ermöglichen künftig, Radar auch im Fahrzeuginneren einzusetzen. Damit kann das Fahrzeug beispielsweise durch Gesten gesteuert werden. Wenn die Auflösung des Radars hoch genug ist, können wir sogar den Puls des Fahrers messen und die Fahrtauglichkeit checken“, beschreibt Schlaffer.

Wie bei 5G geht es auch hier um die Erhöhung der Frequenz der vom Radar verwendeten Mikrowellen, von derzeit etwa 80 auf 140 Gigahertz. — Dazu wird das Signal auf der Leiterplatte nicht durch beispielsweise Teflon-Materialien übertragen, sondern das Medium Luft wird zur Signalübertragung eingesetzt.

Luft in hauchdünnen „Röhrchen“ im Micro- und Nanobereich. Schlaffer: „Luft hat einen geringeren Verlustfaktor, dadurch wird die Übertragungszeit verkürzt und die verwendeten Materialien haben weniger Schadstoffe als derzeit verwendetes Teflon.“

Veröffentlicht am: 25. Juni 2020

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