Bitte anschnallen, wir beschleunigen jetzt ins Metaversum!
Seit Facebook-Gründer Mark Zuckerberg vor einem halben Jahr das Kommen des “Metaverse” prophezeite und sein Unternehmen auf Meta umtaufte, ist das Schlagwort in aller Munde. Eine Bestandsaufnahme.
Helmut Spudich
Für viele fühlen sich die beiden vergangenen Jahre an, als ob ihr Leben nur noch online stattgefunden hätte. Meetings mit Freundinnen und Freunden, Kolleginnen und Geschäftspartnern, die nur noch online stattfanden. Virtuelle Teams in Slack oder Teams. Einkauf im Online-Supermarkt und Avatare von Lieferdiensten, die einen endlosen Strom an Paketen vor der Tür abstellen. Entspannte Konferenzen in virtuellen Showräumen statt stressigen Messen. Und abends Eintauchen in die virtuelle Welt des “richtigen” Fernsehens oder Binge-Watching auf Netflix & Co.
Willkommen in der Zukunft namens Metaverse, die längst begonnen hat. Noch ehe Mark Zuckerberg Facebook in “Meta” umbenannte, in der Hoffnung auf Megageschäft mit dem Metaverse, sind wir bereits Bewohnerinnen und Bewohner dieser virtuellen Welt geworden. Ein halbes Jahr ist es her, dass Facebook CEO Mark Zuckerberg “Metaverse” als die Zukunft des Internets proklamierte und das börsennotierte Facebook zu Meta wandelte. Dabei bleibt Facebook weiterhin die Marke der sozialen Plattform, wie wohl die meisten sowohl die Plattform als auch das Unternehmen meinen, wenn sie von Facebook sprechen. Bis uns Meta so flüssig wie Google von den Lippen kommt werden noch Megamengen an Daten über die Netze rauschen.
Push für Facebook VR-Brille
Was mit dem Metaversum – so die latinisiert eingedeutschte Form des Metaverse – gemeint ist, ist seit dieser großen Geste nicht klarer geworden. Für Zuckerberg ist VR, virtuelle Realität, der Kern des Metaversums: Mit Hilfe von klobigen Brillen, die jeden Kontakt zur Umwelt abschotten, sollen wir uns mit Hilfe unserer Avatare in einer virtuellen Office-, Shopping- und Entertainment-Welt bewegen, in der wir mit virtueller Währung virtuelle Kleidung kaufen, virtuelle Arbeitsplätze bevölkern und virtuelle Konzerte und Kinos besuchen. Und der Betreiber dieser virtuellen Welt, der sich am meisten Profit aus dieser Hinwendung vom Smartphone- und PC-Internet zum Metaverse verspricht, ist – erraten – Facebook, pardon: Meta. Das Metaversum wird so zum Treibstoff für die VR-Brille Oculus, die Meta vor längerer Zeit in sein Imperium einverleibte.
Andere sehen AR, augmentierte Realität, als den Schlüssel zum Metaversum. In Augengläser eingespiegelt, können wir so Nachrichten und Navigationshinweise bekommen, Newsflashes lesen, Information zu Bergen, Tieren und Pflanzen bei Wanderungen oder historischen Gebäuden auf Städteurlauben erhalten, ohne je einen Blick auf unser Smartphone zu werfen. Integrierte Kameras lassen Freunde zuhause in Echtzeit an unserem Blick teilhaben, ohne in einen Flieger steigen zu müssen.
Wieder andere brauchen zur Errichtung des Metaversums weder VR-Brillen noch AR-Behelfe: Spielehersteller wie Fortnite oder World of Warcraft haben bereits seit langem immersive Welten geschaffen, die sich auf den meist großflächigen Bildschirmen der Spieler abspielen. Darin lebt der Mensch, der vor dem Display sitzt, als Avatar in einer virtuellen Welt und reagiert auf ihre Herausforderungen. In World of Warcraft können Spieler kaufen und verkaufen. In Fortnite gibt es nicht nur individuelle Begegnungen oder Handel mit virtueller (und echten) Waren, sondern auch Konzerte oder Ausstellungen.
Die Metaversum-Großeltern
So gesehen hat das Metaversum bereits eine (nach Internetzeit gemessen) lange Schöpfungsgeschichte. Zur Jahrtausendwende erweckte der Entwickler des Simulationsspiels SimCity sein Spieleuniversum mit den Sims zum Leben. Baute man in SimCity nur physische Infrastruktur, geht es bei den Sims um das Erschaffen sozialer Strukturen, an denen Spieler mit einem Avatar teilnehmen. 2003 hob Second Life diese Idee auf eine weitere Ebene: In der Welt von Second Life gibt es “echte” Lebensräume – Universitäten, Konferenzen, Konzerte, individuelle Begegnungen, Shopping, Immobilien. Beide Spiele, kleine Metaversen, gibt es heute noch.
Das Grundkonzept der Sims oder von Second Life hat weitere Anwendungen inspiriert: So zum Beispiel den virtuellen Showroom von AT&S. Aus der Pandemie geboren, in der Messen, physische Konferenzen und über weite Phasen auch persönliche Begegnungen aufgrund von Lockdowns unmöglich wurden, ermöglicht der virtuelle Showroom des High-Tech-Konzerns virtuelle Begegnungen zwischen AT&S-Repräsentanten und Kunden, Analysten, Journalisten und anderen interessierten Besuchern. Zuletzt fand im virtuellen AT&S Showroom die Konferenz Tech Days Asia statt, bei der über hundert Teilnehmer Gelegenheit hatten, sich über die jüngsten Entwicklungen des führenden PCB-Produzenten zu informieren.
All diese Dinge sind ein bereits seit längerem bestehender Teil des “Cyberspace” – ein ähnlich unscharfer und weitgehend deckungsgleicher Begriff wie “Metaverse”. Neue technische Welten entstehen meist nicht in einem Big Bang, sondern als Stückwerk. Lange vor dem Internet, dem Netz der Netze, gab es Netzwerk-Inseln. Erst ab 1989 wurden die Standards entwickelt, die das “World Wide Web” – eigentlich nur ein Teil des Internets, wenn auch sein bekanntester – ins Laufen brachten. Bluetooth wurde in den 1990-er Jahren entwickelt als Ersatz für serielle Kabelanschlüsse und Infrarot, das nur in eine Richtung übertragen konnte. Es dauerte über ein Jahrzehnt, ehe Bluetooth in Geräte aller Art integriert wurde. Heute ist es eine unverzichtbare Basisfunktion digitaler Geräte. Ähnlich erging es QR-Codes, 1994 von der japanischen Autoindustrie zum Management von Autoteilen erfunden: Nach einem kurzen Hype rund um das Millennium waren QR Codes passé, ehe digitale Bordkarten, “grüne Pässe” und QR-Codes für Speisekarten sie fest im Alltag verankerten.
Fehlende Einigkeit
So sind die Entwicklungen für das Metaverse derzeit Stückwerk und werden jeweils von einzelnen Konzernen mit unterschiedlichen Vorstellungen vorangetrieben. Eine einigende Plattform fehlt. Unterschiedliche Technologien tragen zur weiteren Entwicklung der Online-Welt bei: Facebook setzt sehr stark auf Virtual Reality, Fortnite arbeitet daran, dass hunderte und tausende Personen simultan an Ereignissen interaktiv teilnehmen können. Das nach einem Probelauf wieder vom Markt verschwundenen Google Glass zeigt, dass Google mehr als ein Auge auf Augmented Reality geworfen hat. AR ist auch für Apple ein zentrales Entwicklungsthema. Gerüchten zufolge soll eine AR-Brille von Apple demnächst auf den Markt kommen. Kryptowährungen und NFTs (Non-Fungible Tokens) zur Monetarisierung digitaler Güter sind bei vielen Entwicklungen ein zentraler Punkt – schließlich muss sich das Metaversum für seine Betreiber auch lohnen.
So bleibt das Metaversum bis auf weiteres ein Marketing-Superwort, so wie vor mehr als einer Dekade das Schlagwort Web 2.0. Vieles ist alter Wein in neue Schläuche, um neue Investorengelder anzulocken. Dies bringt jedoch neue Technologie hervor, die wie frühere Entwicklungen Jahre, manchmal Jahrzehnte brauchen, um zu reifen. Eines Tages leben wir dann vielleicht im richtigen Metaversum. Nur um bereits in die nächste Galaxis unterwegs zu sein.
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