Fokus AI: Trotz des großen Hypes werden ChatBots und KI-Systeme unterschätzt
Seit dem Debut von ChatGPT vergangenen Herbst vergeht kein Tag mit neuen Diskussionen und Meldungen über Künstliche Intelligenz (KI). Dabei wird anhand lustiger Anekdoten über ihre Schwächen, das Potenzial der ChatBots und ihrer KI-Verwandten gewaltig unterschätzt.
Helmut Spudich
Bekanntlich sind Prognosen schwierig, vor allem wenn sie die Zukunft betreffen. Thomas Watson, dem Gründer von IBM, wird zugeschrieben, er hätte den Markt für Computer in den 50er-Jahren auf fünf Stück eingeschätzt. Microsoft-Gründer Bill Gates nahm den Mund zwar voller. In seinen Anfangsjahren provozierte er damit, dass Microsoft einen (gemeint war tatsächlich 1 Gerät) PC „auf jeden Schreibtisch und in jede Wohnung“ bringen wolle. Und als Steve Jobs 2007 das erste iPhone aus der Tasche zog, gab er sich ungewöhnlich bescheiden. Er wäre zufrieden, wenn das iPhone den Weltmarktanteil von BMW erzielen würde, der damals bei drei Prozent lag.
Heute wissen wir, wie diese Prognosen ausgingen: Sie waren eine gewaltige Unterschätzung der digitalen Entwicklung. Kaum noch schätzbar ist die Zahl der Computer, die die Leistungsfähigkeit der Rechenmonster der 1950-er Jahre in Taschengröße übertreffen. PCs und Smartphones gibt es milliardenfach und nicht nur in reichen Gesellschaften haben Menschen oft mehrere davon für ihre persönliche Verwendung.
Darum muss man alle Prognosen zum Aufbruch des Zeitalters der Künstlichen Intelligenz (KI) mit Vorsicht genießen. Nicht, weil sie übertrieben sind, sondern weil wir noch gar keine Ahnung haben, was KI-Systeme alles leisten werden. Nachdem Microsoft ChatGPT bereits bei Bing und Office einsetzt, präsentierte Google vor kurzem, wie KI im Zentrum seiner Produkte stehen wird. Die Antwort auf Suchen durch vollständige Sätze statt Links, Vorschläge zur Beantwortung einer E-Mail, die Zusammenfassung langer Dokumente in ein „executive summary“, das sind jedoch nur naheliegende einfache Anwendungen für KI.
Einige wenige Meldungen über neue KI-Leistungen der jüngsten Zeit zeigen uns erneut die enorme Vielfalt und Dimension der Anwendung von Künstlicher Intelligenz. „Gedankenlesen“ ist einer dieser Bereiche. In einer Anwendung zeigten Forscher:innen mehreren Versuchspersonen eine Reihe von Bilder und baten sie kurz darauf, sich an diese Bilder zu erinnern. Die Gehirnströme des Erinnerns wurden von einer KI ausgewertet: Tatsächlich produzierte das KI-System ähnliche Bilder WIE jene, die zuvor gezeigt wurden. Keine Replikas, aber in der gleichen Kategorie wie die Vorbilder: Ein Teddybär, ein Flugzeug, ein Turm, eine Dampflokomotive.
In einer anderen Studie konnten Forscher:innen zeigen, dass ihr KI-System teilweise die genauen Wörter und ganzen Sätze mitschreiben konnte, die Versuchspersonen beim Konsum von Podcasts gerade hörten. Schon zuvor war es ansatzweise gelungen Sprache aufgrund von Hirnaktivitäten zu entschlüsseln. Jedoch mussten dazu invasive Elektroden im Gehirn platziert werden. Die jetzigen Versuche, sowohl bei Bild- als auch bei Spracherkennung, basierten auf der Interpretation von so genannter funktionaler Magnetresonanztomografie (fMRT). Das ist zwar eine aufwendige Apparatur, jedoch ist die weitere Entwicklung durch Miniaturisierung vorstellbar – so wie Ultraschall heute mit einem Zusatz per Handy möglich ist.
Zu guter Letzt noch eine Meldung aus dem Leben der angeblich stummen Fische und anderer Meereswesen. Seit geraumer Zeit erforschen Wissenschafter:innen die „Soundscape“ der Meere, die akustische Landschaft unter Wasser. Hintergrund sind die enormen Störungen durch Lärm, den Schifffahrt, Ölbohrungen und anderes in diesem Ökosystem verursachen. Dabei geht es auch darum, unterschiedliche Meerestiere anhand ihrer „Stimmen“ zu identifizieren.
Diese „Stimmen“ von Fischen, Krabben und anderen Meerestieren heraushören und unterscheiden zu lernen ist für Menschen enorm zeitaufwendig und dauert oft viele Monate oder sogar Jahre. Dank KI-Systemen ist dies heute für viele Arten innerhalb von Minuten möglich. Einige Forscher:innen glauben, dass es damit auch eines Tages möglich wird die Kommunikation von Walen und Delphinen zu verstehen. Solche Ergebnisse geben auch Hinweise darauf, welche große Verbesserungen KI bei der Entwicklung von Hörgeräten für Menschen bevorstehen.
In mancher Hinsicht sind die zahlreichen Hoppalas, mit denen Schwächen von Chatbots und anderer KI-Systeme vorgeführt werden, sowohl verstörend als auch beruhigend, weil sie die menschliche Überlegenheit zeigen. Aber sie führen auch dazu den Wirbelsturm zu unterschätzen, der sich hier im Guten wie im Schlechten zusammenbraut. Die Urangst vor Maschinen, die etwas besser als Menschen können, sollte uns nicht vor der Nutzung abhalten. Schließlich erfinden Menschen seit der Dampfmaschine Maschinen deswegen, weil sie unsere Leistungen übertreffen.
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