Fokus AI: Künstliche Intelligenz stützt Erdbebenhilfe und erträumt Medikamente
Seit OpenAI im November 2022 sein Produkt ChatGPT allgemein zugänglich machte, erreichte die „generative KI“ („sprachschöpfende“ Künstliche Intelligenz) die Marke von 100-Millionen-User:innen schneller als TikTok. Im Schatten der vielsprechenden und teils zu vielversprechenden Systeme werden jedoch erstaunliche andere KI-Fortschritte leicht übersehen.
Helmut Spudich
Was wäre, wenn Künstliche Intelligenz uns nicht nur relativ banale Dinge wie Kundendienst in Call Center, Mails von Vertriebsmitarbeiter:innen oder das Schreiben lästiger Schulaufsätze abnehmen würde? Dann würde KI erst so richtig ins träumen kommen und neue Medikamentenformeln ersinnen, die noch kein Forschungsteam zuvor erstellen konnte. Oder sie würde Einsatzteams in Erdbebengebieten unterstützen, um effizienter Hilfe leisten zu können.
Die Sprach-KI ChatGPT und ihr „zeichnender“ Cousin DALL-E (inzwischen gibt es auch eine Reihe von anderen Anbietern) wirken derzeit wie ein Eisbrecher für die Verbreitung und Popularität von KI-Software im Allgemeinen. Menschen schreiben Dingen seit der Antike menschlische Qualitäten zu, ein Vorgang, den Psycholog:innen „Anthropomorphisierung“ nennen. Unsere Interaktion mit digitalen Geräten ist für die Vermenschlichung besonders prädestiniert, da sie Aufträge in einem (vorgeschriebenen) Dialog erfüllen und wie „Doktor Google“ Antworten auf unsere Fragen geben.
Liebeserklärung und Hilfseinsatz
Zwar ging in den vergangenen Wochen viel journalistische und wissenschaftliche Mühe darauf, die Irrwege von Sprach-KI aufzuzeigen. In einem vielstündigen nächtlichen Test, der sich wie eine Geschichte von E.A. Poe liest, erklärte „Sydney“ (der nicht publizierte Projektnamen Microsofts für den Einsatz von KI in Bing) einem Journalisten der New York Times seine tiefe Liebe, forderte ihn zur Scheidung von seiner Frau auf und machte dem User eine richtige „Szene“. Aber zeugt dies nicht weniger von einer noch unreifen Technologie als von unreifen Menschen, die KI auf solche Ideen bringt?
Quasi im Windschatten von ChatGPT zeigen indes andere KI-Systeme, welche Leistungen sie in den unterschiedlichsten Bereichen erbringen können. Eine mögliche Anwendung erhielt durch die Erdbebenkatastrophe in der Türkei und Syrien besondere Relevanz: Die Unterstützung von Rettungskräften durch genaue Daten über das Ausmaß der Zerstörung, damit möglichst rasch und effizient geholfen werden kann.
Schäden auf Bildern sichtbar
Das xView2 genannte Open Source Projekt wurde durch das Software Engineering Institute der Carnegie Mellon Universität in Kooperation mit weiteren Forscher:innen entwickelt. Finanziert wurde das Projekt vom US-Verteidigungsministerium. Mit Hilfe von KI (korrekter: durch Machine Learning, bei dem ein neuronales System selbst den Weg zur Problemlösung sucht) analysiert xView2 Satellitenbilder unterschiedlicher Anbieter, um Schäden an Gebäuden und der Infrastruktur in einem Erdbebengebiet zu kategorisieren und je nach Schwere der Schäden zu clustern.
Bisher wurde xView2 bereits erfolgreich in Kalifornien und Australien bei der Bekämpfung von großflächigen Bränden angewendet, ebenso wie bei der jüngsten großen Flutkatastrophe in Nepal. Feuerwehren und UN-Hilfsorganisationen konnten auf Basis der rasch erstellten Übersichten ihre Einsätze besser auf die Lage abstimmen. In der Türkei konnte ein Team einer UN-Hilfsorganisation damit schwer betroffene Gebiete erkennen, die sie in ihrer Arbeit am Boden bisher übersehen hatten.
Pixel für Pixel
Wie schafft dies xView2? Die KI verwendet dazu eine „semantic segmentation“ genannte Technik, mit der Objekte erkannt werden können. Dabei wird jedes Pixel auf einem Bild in Beziehung zu den benachbarten Pixel analysiert, um daraus Schlussfolgerungen zu ziehen. Als Basis werden dafür Satellitenaufnehmen oder auch Aufnahmen von Drohnen herangezogen, deren „händische“ Auswertung durch Menschen viel länger in Anspruch nehmen würde.
Pharmazeutische Entwicklungen sind ein anderer Anwendungsbereich, für den KI großes Potential birgt. In der Krebsbehandlung setzen Ärztinnen und Ärzte zunehmend auf personalisierte Medizin: Sie suchen individuell spezifische Medikamente und Behandlungen für Patient:innen und deren Erkrankung. Dazu muss aus einer Vielzahl vorhandener Medikamente am Markt das für die jeweilige Person am besten geeignete gefunden werden. An der Wiener Medizinischen Universität wird dazu derzeit eine neue Technologie des britischen Unternehmens Exscientia erprobt, berichtet das Magazin MIT Technology Review.
Suche nach neuen Wirkstoffen
Dabei werden kleine Gewebeproben der Patient:innen mit gesunden Zellen und Krebszellen unterschiedlichsten Medikamentencocktails ausgesetzt. Dies entspricht in der Chemotherapie der Suche nach einem wirksamen Medikament. Aber statt den Patient:innen die Tortur einer langen Chemo auszusetzen, um die Wirksamkeit eines konkreten Medikaments zu bestimmen, wird im Labor gleichzeitig eine Vielzahl von Medikamenten ohne Belastung für die betroffene Person getestet. Um Veränderungen an den gesunden wie kranken Zellproben zu erkennen, setzen die Wissenschafter:innen Computer Vision ein. Das ist ein mit KI-Hilfe trainiertes Modell, bei dem auch minimalste Änderungen in den Zellen erkannt werden.
Dieses Matchmaking zwischen inviduellem Patienten, Krebserkankung sowie dem am besten geeigneten Medikament hat bisher vielversprechende Ergebnisse gezeitigt, sagt Exscientia CEO Andrew Hopkins. Das sei jedoch nur das halbe Problem, das Exscientia lösen will. Zusätzlich zum Matchmaking sollen mit Hilfe von KI bisher noch nicht bekannte, optimale Medikamente zur Behandlung entwickelt werden.
Zwei auf diesem Weg entwickelte Medikamente werden seit 2021 klinisch erprobt, zwei weitere sollen zur Erprobung eingereicht werden. Exscientia ist nicht das einzige Unternehmen in diesem Feld. Hunderte Start-ups arbeiten daran, die Entwicklung neuer Medikamente zu beschleunigen. Derzeit braucht es im Schnitt zehn Jahre und Milliardeninvestitionen, um ein neues wirksames Medikament auf den Markt zu bringen. Trotz bisheriger Erfolge warnt jedoch Exscientia vor überzogenen Hoffnungen auf die Maschine: Auch wenn ein neues Medikament im Labor vielversprechend erscheint steht am Ende immer die notwendige Erprobung mit Menschen, die versagen kann. Für das maßgeschneiderte Medikament dank KI ist es noch ein weiter Weg.
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