Fokus AI: AI-Systeme liefern sich 2023 ein heißes Wettrennen
Schon lange spielt künstliche Intelligenz eine große Rolle bei vielen technischen Entwicklungen. Seit der Premiere von ChatGPT steht sie jetzt im Rampenlicht – und heizt 2023 einen neuen Wettlauf spannender Technologien an.
Helmut Spudich
Wenn wir ehrlich sind, ist die sonst vor Innovationen sprühende Tech-Welt in den vergangenen Jahren ein wenig langweilig geworden. Mehr Pixel! Bunteres Display! Längere Akkudauer! sind die bescheidenen Highlights des jährlichen Smartphone-Zyklus. Unsere Smartwatches werden vielseitiger, aber generell sind Wearables mehr Hype als Nutzen. 5G hat noch nichts Wesentliches hervorgebracht, was Mobilfunk nicht schon bisher konnte, und die Industrie vertröstet bereits auf die nächste Generation für wirkliche „Revolutionen“. Autonomes Fahren? Die ersten Unternehmen sind dabei bereits ausgestiegen.
Doch plötzlich ist neue und unerwartete Bewegung in das Tech-Feld gekommen. Mit seiner öffentlichen Premiere gab ChatGPT vor wenigen Monaten den Startschuss für ein neues Wettrennen um eine Technologie, die das Zeug zur tiefgreifenden Veränderung unserer Nutzung technologischer Tools hat. AI, KI, „Künstliche Intelligenz“, „Machine Learning“, hat sich über viele Jahrzehnte in einer Mischung aus Schüben und Stillstand entwickelt. Jetzt ist offenbar der Zeitpunkt für einen weiteren großen Schub reif.
Frühere Schübe führten zur Entwicklung von Spracherkennung und maschineller Übersetzung. Als Google Translate 2006 auf den Markt kam, war es anfangs Zielscheibe für Spott ob seiner entstellenden Übersetzungsfehler. Dazwischen gab es Stillstände, aber heute liefert maschinelle Übersetzung im Zusammenspiel mit Sprach-KI korrekte und perfekte Texte. KI-basierte Gesichtserkennung übertrifft inzwischen die menschliche bei weitem, was uns nette Fotorückblicke am Handy ebenso wie furchtbare Überwachungssysteme beschert. KI wird, zusammen mit Menschen, die medizinische Diagnostik wesentlich verbessern. Dafür tut sich KI immer noch schwer, Tiere oder Objekte richtig zu identifizieren. Aber sie kann uns, auf Basis weniger Angaben, Illustrationen und fotorealistische Darstellungen wie das zu diesem Text verwendete Bild „malen“.
ChatGPT wurde von seinem Entwickler OpenAI am 30. November des Vorjahres vorzeitig veröffentlicht, um als erster an den Start dieses Wettrennens zu gehen. Vorzeitig, weil es eine 3.5-Version seines Sprachmodells verwendet, obwohl die Version 4.0 offenbar bereits knapp vor Fertigstellung war. Vorzeitig auch, weil ihm die nötigen technischen Sicherheitsplanken fehlten, um auf entsprechende Aufforderung keine offenkundig falschen, rassistischen oder hasserfüllten Antworten zu produzieren. Dennoch faszinierte es mit grammatikalisch einwandfreien, geschliffenen und meist richtigen Antworten auf Fragen, die ihm Normalverbraucher:innen, Journalist:innen, Lehrer:innen und Forscher:innen stellten. 100 Millionen User:innen in den ersten beiden Monaten: Das schaffte noch keine neue Anwendung bisher.
2023, soviel steht fest, wird das Jahr der KI in der alltäglichen Anwendung. Seit der Premiere von ChatGPT überschlagen sich Ankündigungen über den praktischen Einsatz dieses und anderer Chatbots. Wenig überraschend will Microsoft mit großem Tempo den Nutzen aus seiner bisherigen Investition von 13 Milliarden US-Dollar und milliardenteurer Rechenunterstützung in OpenAI zu ziehen.
Der Wettlauf wird sich zunächst auf dem Feld der Suchmaschinen abspielen, derzeit ein Fast-Monopol Googles. Derzeit ist Microsoft Bing ein krasser Außenseiter. Das „Neue Bing“ wird Antworten auf Suchanfragen nicht mehr in Form endloser Auflistungen von Links geben, sondern als sprachlich einwandfrei formuliertes Exzerpt der gefundenen Informationsquellen. Dabei wird Microsoft die Kontrollen einbauen, die ChatGPT bisher fehlen: Es wird wie bei einer sauberen akademischen Arbeit Quellenangaben sowie Sicherheitschecks geben, damit Bing nicht als Fake-News- und Hass-Generator missbraucht werden kann.
Auch bei seinem Webbrowser Edge, nach vielen Jahren des Explorer-Monopols nur noch ein weiterer Mitbewerber im Browser-Feld, wird ChatGPT zum Zug kommen. So kann der Browser damit beispielsweise von einem aufgerufenen Text eine Kurzfassung erstellen oder einen kurzen Textvorschlag für einen Social-Media-Post machen. Microsofts Mailprogramm kann künftig mögliche Antworten auf eingehende Mails vorschlagen, was vor allem Kundenservice und Vertrieb in Unternehmen entlasten soll.
Unter diesem Zugzwang zieht Google offenbar den Einsatz von KI in seiner Suche vor. Der Marktführer, der seit vielen Jahren in KI-Systeme investiert und sie wie bei Google Translate oder der Bildersuche längst einsetzt, war hier vorsichtig: Zu groß schien die Gefahr, durch lächerliche oder schädliche Suchergebnisse das Image von Google anzupatzen. Als warnendes Beispiel diente „Galactica“, ein Chatbot von Meta, der kurz vor dem Start von ChatGPT freigegeben wurde. Nach drei Tagen im Internet, die voller falschen und toxischen Antworten waren, zogen die Entwickler die Notbremse und stoppten das Experiment.
Jetzt hat Google seinen „Barden“ vorgestellt, den derzeit eine Handvoll auserlesener Testuser ausprobieren dürfen. Damit werden Suchanfragen mit Texten anstelle einer schier endlosen Liste von Links mit Text-Schnipseln beantwortet. Googles langsame Reaktion hat weniger mit Weitsicht als mit Vorsicht zu tun. Denn schon 2011 erklärte der damalige CEO Eric Schmidt in einem Interview, dass Suchmaschinen mit Künstlicher Intelligenz die größte mögliche Herausforderung für Google sein können. Jedoch müsse man mit der Technologie verantwortungsvoll umgehen um Missbrauch zu verhindern, erklärte Google-Chef Sundai Pichar bei der Veröffentlichung von Bard.
Kein Wettrennen ohne Verlierer: Das werden die zahlreichen Websites sein, deren Links künftig nur noch unter ferner liefen gelistet werden und die durch prägnante Antworten überflüssig werden. Und denen dadurch rückgängige Zugriffszahlen und Werbeeinnahmen drohen.
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